Troia
Traum und Wirklichkeit
"So ist des Menschen Geschlecht;
dies wächst und jenes verschwindet."

Homer, Ilias
Er war ein Mann großer Visionen und großer Kraft sie durchzusetzen, dieser Heinrich Schliemann aus Neu-Buckow (Rostock), Pfarrersohn, Laufbursche, Krämergehilfe. Das Boot, auf dem er als Schiffsjunge nach Venezuela anheuert, geht schon vor Holland unter. So wird er Bürogehilfe in Amsterdam, Handelsagent in Petersburg, Gründer einer Goldbank in Kalifornien, Direktor der Kaiserlichen Staatsbank in Petersburg. Er lernt ein Dutzend Sprachen, verdient viele Millionen, bevor er 1863 mit 41 Jahren seine Firma auflöst, auf Weltreise geht und dann Altertumswissenschaften studiert. Damit hat er seine wahre Welt gefunden!
       Er liest immer wieder geradezu besessen Homers Ilias und Odyssee im Original, diese ältesten schriftlich überlieferten Dichtungen der abendländischen Kultur, die "Bibel der Griechen". Er heiratet - natürlich - eine Griechin, 17jährig, die sich gleichfalls für Altertums-Wissenschaften begeistert, und beginnt mit ihr Troia zu suchen, die sagenhafte Stadt zwischen zwei Meeren und Kontinenten.
Troia?
       In den Dardanellen vermischen sich die Fluten des Schwarzen Meeres und der Ägäis. Sie trennen Asien von Europa. Südlich, auf der asiatischen Seite, liegt - etwa 250 km westlich von Instanbul - Troia. Es ist ein Ort mit großer Geschichte und vielen Geschichten, laut Plinius der "Ursprung allen Ruhms", mehr als 3.000 Jahre lang der große Mythos des Abendlandes.
       Im 12. Jahrhundert v. Chr. führt die wohl folgenreichste Miß-Wahl der Weltgeschichte zu einem Belagerungs-Krieg.
Paris überreicht den goldenen Zankapfel der Liebesgöttin Aphrodite. Als Lohn ist ihm die schönste Frau der Welt, Helena aus Sparta, versprochen. Er entführt sie in sein heimatliches Troia. Die Griechen verfolgen ihn daraufhin mit über tausend Schiffen und belagern die Stadt zehn Jahre lang, ziehen schließlich auf Rat des listenreichen Odysseus zum Schein ab und lassen ein hölzernes Ungetüm zurück, in dem sich Krieger versteckt halten - das "Troianische Pferd". Nachdem die Holzkonstruktion von den Belagerten im Triumphzug in die Stadt geholt worden ist, öffnen die darin Versteckten nachts den zurückkehrenden Griechen die Tore. Troia wird völlig zerstört.
       Die Geschichte legt Schutt und Vergessen über diesen Schicksals-Hügel der Archäologie. So viel Vergessen, daß die Stadt der homerischen Dichtungen viele Jahrhunderte lang als eine reine Legende betrachtet wird. Häufig setzt man sie auch gleich mit Atlantis.
       1870 sucht Schliemann, seinen Homer in der Hand, in der Gegend und beginnt mit Ausgrabungen. In den folgenden Jahren findet er die Mauern Troias, zahlreiche archäologische Stücke und einen sagenhaften Schatz, das "Gold des Priamos". Reichen Schmuck, Flaschen, Becher, Vasen, Zylinder, Prismen, Würfel aus Gold, aber auch aus Silber, Bronze und Edelsteinen. Daß er dabei in die zweite, bonzezeitliche Siedlungsschicht des dritten vorchristlichen Jahrtausends greift statt - wie er glaubt - in die sechste homerische des 12. Jahrhunderts - ein Datierungsirrtum von über tausend Jahren, gibt dem märchenhaften Fund nur eine zusätzliche Pointe. In dieser Sternstunde der Archäologie wird eine Legende zur historischen Wirklichkeit und wissenschaftlich analysierbar.
       Schliemann, der erfolgreichste der zahlreichen Ausgräber des 19. Jahrhunderts bringt den Schatz heimlich außer Landes. Aber er will sich nicht persönlich bereichern. Er stiftet die Fundstücke "dem deutschen Volk zum ewigen Besitz und ungetrennter Aufbewahrung in der Reichshauptstadt". Das große, einmalige Forscher-Schicksal vollendet sich 1890. Seine Frau Sophie, Mutter seiner Kinder Andromache und Agamemnon, die unermüdliche wissenschaftliche Mitarbeiterin und Mitstreiterin, setzt sein Lebenswerk bis zu ihrem eigenen Tode fort. Ihrer beider Leben ist auch die Geschichte einer großen Liebe.
       Das Schicksal des Schatzes aber geht weiter. Zahllose Berliner Museums-Besucher bewundern ihn zu Begin des 20. Jahrhunderts, dann scheint er, anscheinend in den Bombennächten des zweiten Weltkrieges zerstört, lange Jahre verschollen. Schließlich kommt 1993 die zögerliche Nachricht aus Moskau, daß er dort als Kriegsbeute verwahrt werde. Natürlich solle er aber den deutschen Freunden zurückerstattet werden, die mit so großem finanziellen Einsatz den alten Apparatschiks beim Überleben in neuen politischen Formen helfen.
Ein Gesetz der Duma macht diese edle Absicht zunichte und erklärt das Gold Schliemanns zur Kriegs-Wiedergutmachung, die Russland nie mehr verlassen soll.
       Immerhin haben dreißig Grabungskampagnen in 130 Jahren bis in die jüngste Zeit eine Vielzahl von weiteren Funden an Tageslicht gebracht, ein Archiv aus der Frühgeschichte der Menschheit. Zudem wurde über dreitausend Jahre der Mythos Troia, Sinn und Sinnlosigkeit seines Krieges, die Kriegslist mit dem Troianischen Pferd, göttliche und tief-menschliche Bindungen zwischen den am Drama Beteiligten in der Kunst auch entfernter Gegenden immer wieder variiert.
       Bis zum 17. Februar zeigte die 'Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik' in Bonn nun archäologische Fundstücke wie edlen Schmuck, Waffen, reiches Tafelgeschirr, antike Kunstwerke der Vasenmalerei und Plastiken voller archaischer Ausdruckskraft, mittelalterliche Handschriften, neuzeitliche Druckwerke, Gemälde und Grafiken - was alles bis heute die Faszination dieser einmaligen Stadt ausmacht.
       Besonders prägen sich attisch-schwarz- und rotfigurige Amphoren ein, Vasen, Kelche, Kannen, Schalen mit ergreifenden Abschiedszenen, dramatischen Zweikämpfen, realistischen Heldentoden, rührenden Trauerdarstellungen aus dem Homerschen Drama.
Vor allem einige Stücke aus dem 6. und 5. Vorchristlichen Jahrhundert sind von hoher technischer Perfektion, großem Detailreichtum, tiefer Menschlichkeit und hinreißender Schönheit. So führt Hermes die Konkurrentinnen Aphrodite, Athena und Hera zum königlichen Hirten Paris, der sich bereits verängstigt zum Gehen wendet und nur durch gutes Zureden von Hermes beschwichtigt werden kann. Die ausdrucksvolle Körpersprache und das verängstigte Gesicht drücken schon die Last der Entscheidung und eine Ahnung von der tragischen Zukunft aus.
       An anderen Stellen beeindruckt der Abschied des Kriegers Hektor von seiner Gattin Andromache, sein Zweikampf mit Achill, die Schleifung seines Leichnams. Und niemand kann ohne Erschütterung die Bitte des Vaters um die Leiche seines Sohnes betrachten. Ebensowenig wie das letzte Gebet eines Helden vor seinem Selbstmord.
       Ein erst vor wenigen Jahren in der Erde Troias gefundener monomentaler Marmorsarkophag zeigt die Schlachtung der Priamos-Tochter Polyxena. Kostbare Metallfunde wie silberne Becher, Schalen und Platten, Bronzespiegel, ausdrucksvolle Beschläge eines etruskischen Prachtwagens, zahlreiche Münzen von faszinierender Feinheit und Ausdruckskraft bleiben unvergeßlich.
       Frühe Weltkarten zeigen natürlich Troia, ebenso wie die Schedelsche Weltchronik in ihrer üblichen Passe-partout-Verallgemeinerung. Tapisserien, Kupferstiche, Drucke gestalten den großen Krieg. Ein Gemälde der brennenden Stadt in der Nacht und ihrer fliehenden Bewohner (Öl auf Kupfer, um 1600) ist von magischer Eindringlichkeit.

       Und die Ausstellung zeigte mehr. Der Laien-Besucher, der sich einmal pflichtschuldigst durch das Ruinen-Labyrinth Troias gearbeitet hatten, kreuz und quer, 30 m auf und ab, wird nie mehr das Gefühl der Hoffnungslosigkeit vergessen, als Nicht-Archäologe jemals die zehn Städte übereinander, ihre unterschiedlichen Strukturen und ihre Abgrenzungen auseinander halten zu können. Hier half ein wenig eine Weltpremiere: In einer zwanzigminütigen multimedialen Raum- und Zeitreise erlebte man verschiedene geschichtliche Phasen der Stadt und ihres Umlandes in Verbindung mit ausgewählten Funden, die teils auch in der Ausstellung zu sehen waren.

Klaus G. Müller, 2001