Die Anfänge der modernen koreanische Literatur

Dr. Hans-Jürgen Zaborowski


Abschließung und Öffnung

Der Weg Koreas in die Moderne war mit vielen Hindernissen versehen. Mehrere Jahrhunderte lang  schloß sich das Land von der Außenwelt ab. Die Überfälle durch Japan und der darauf folgende siebenjährige Krieg (1592 – 1598), mehrere Einfälle der Mandschuren von Norden her (1626 – 1637) waren die Veranlassung, die Grenzen  zu schließen, Dörfer und Städte von den Küsten ins Binnenland zu verlegen, um für eventuell vorbeikommende fremde Seefahrer den Eindruck eines unbewohnten Landes zu vermitteln. Als offizielle Verbindungen mit dem Ausland blieben nur der Austausch von Gesandtschaften mit dem Kaiserhof in Peking und zu den Fürsten der japanischen Doppelinsel Tsushima, durch die der Kontakt mit Japan erhalten blieb.

 Dennoch konnte sich Korea nicht von fremden Einflüssen freihalten. Seit dem 17. Jahrhundert verbreitete sich die katholische Richtung des Christentums, vor allem unter den Gebildeten im Lande, ohne Mission von Außen, ohne dass Missionare ins Land gekommen wären. Der koreanische Kronprinz wurde von den Mandschuren als Geisel mitgenommen, um das Wohlverhalten der Regierung Koreas zu garantieren. In Peking trafen er und seine Gefolge mit dort aktiven Jesuiten zusammen. Auch kam es zu Begegnungen von Gesandtschaftsmitgliedern und den christlichen Priestern. Christliche Schriften – Katechismus, Traktate und Teilübersetzungen aus der Bibel ins Chinesische brachte man nach Korea mit. Dort wurden diese Druckwerke als Beispiele für eine neue Philosophie studiert, später als religiöse Texte verstanden, und es kam zu einer Gemeindebildung. Diese neue, westliche Lehre schien in den Augen der Herrschenden die gesellschaftliche Ordnung zu bedrohen, denn die Anhänger des Christentums gaben unter anderem die Verehrung der Ahnen ihrer Familien auf. Erste westliche Missionare kamen nach Korea, um die wachsende Gemeinde zu betreuen. Es gab mehrere Christenverfolgungen, bei denen auch westliche Priester zu Märtyrern wurden. Das provozierte Strafexpeditionen  westlicher Staaten, die aber alle zurückgeschlagen werden konnten. Aber innenpolitisch wuchs der Druck der Gruppen, die die Macht ausübten, gegenüber allen Andersdenkenden.

 1876 erzwang dann Japan durch die Androhung von Gewalt ein Ende der Jahrhunderte währenden Abschließung Koreas, die Öffnung wurde durch einen erpreßten Vertrag zwischen dem japanischen Kaiserhaus und der koreanischen Königsfamilie besiegelt. Verträge mit zahlreichen weiteren Staaten auch aus dem Westen machten vordergründig Korea zu einem gleichberechtigten Mitglied der Völkergemeinschaft. Tatsächlich aber wurde das Land zu einem Spielball fremder Machtinteressen. Innere Krisen, verstärkt durch fremde Einmischung, schwächten das Land. Bewaffnete Auseinandersetzungen um und in Korea wie der Chinesisch–Japanische Krieg (1894/95) und der Japanisch–Russische Krieg (1904/05) verschärften die gesellschaftlichen Widersprüche in Korea.


Ein neues Gefühl der Identität

Das traditionelle Weltbild, das Korea in enger Bindung an den chinesischen Nachbarn sah, als festen Bestandteil einer chinesischen Weltordnung, brach zusammen. Die vielfältigen Bedrohungen  mußten zwangsläufig zu einem neuen Selbstbewußtsein, zu einem neuen Gefühl nationaler Eigenständigkeit führen. Die im 15. Jahrhundert geschaffene koreanische Schrift, die über einen langen Zeitraum nur ein Schattendasein geführt hatte, wurde zu einem wichtigen Werkzeug bei der Schaffung einer neuen Identität. Von 1896 an wurden Zeitschriften gegründet, Zeitungen begannen zu erscheinen. Sie wurden zum Forum einer neuen Literatur, die sich bemühte, dem ganzen Volk unter Zurückstellung aller Klassendifferenzen, wie sie Jahrhunderte lang zementiert gewesen waren, den Weg in eine neue Zeit zu öffnen. Aufklärung aller, das war die Parole des Tages. Die Literatur versuchte, neue Lebensformen mit zu gestalten. Anfänglich wurden die neuen Inhalte noch in den alt überlieferten Formen ausgedrückt. Doch bald schon setzen sich neue Formen durch, nicht zuletzt unter dem Einfluß der nun ohne Behinderung missionierenden christlichen Kirchen – zum Katholizismus waren nun auch vor allem amerikanische Gemeinschaften auf dem „Missionsfeld“  Korea aufgetreten.
 Die drängenden Probleme wurden thematisiert. Ein nach westlichem Vorbild reformiertes Schulsystem verbreitete Bildung in fast allen Schichten der Bevölkerung – und gab ihnen die Möglichkeit, sich zu artikulieren. In Prosatexten wurden  Gedanken westliche Herkunft immer deutlicher spürbar, die in den neuen Formen und in einer „modernen“ Erzählweise vermittelt wurden. Stoffe der traditionellen Erzählliteratur waren oft Biographien historischer – oder auch fiktiver – Persönlichkeiten gewesen, die mit Angabe des Schauplatzes und der Zeit in strenger, chronologischer Folge dargestellt worden waren. Nun trat an deren Stelle eine erfundene, erdichtete Handlung, die in der Gegenwart spielte. Die einsträngige Erzähltechnik wurde durch Rückblenden und Vorausschau aufgelöst. Ein stark an der gesprochenen Umgangssprache orientierte Prosastil setzte sich durch. Man machte sich frei von schrift- sprachlichen Einflüssen, gab Wörter und Wendungen auf, die ursprünglich aus dem Chinesischen stammten.
 Nicht zu übersehen ist die lehrhafte Tendenz  in der Literatur dieser Zeit – sie stand in lebendiger Wechselwirkung mit der Aufklärungsbewegung. Bestimmt wurden die literarischen Tendenzen durch einen großen, fast unerschütterlichen Optimismus. Wenn man nur den Wissenstand der „modernen Staaten“ des Westens erreichen konnte, dann müßte für die Koreaner  ein neues Leben in Freiheit und Selbstbestimmung möglich werden.
Doch die Reformversuche kamen zu spät. Das Land geriet in eine tiefe Existenzkrise, die vom benachbarten Japan nach den Siegen über China und das Zarenreich ausgenutzt wurden für die Durchsetzung eigener Machtinteressen.


Ein Fehlschlag?

Die Literatur in der Übergangszeit der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts konnte die selbstgestellte Aufgabe nicht erfüllen. Der Erhalt der Unabhängigkeit des Landes, die Beseitigung der Klassenschranken, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Demokratisierung der ganzen Gesellschaft – sie waren in weite Ferne verschoben. Ein Grund für diesen Fehlschlag ist wohl auch darin zu sehen, dass die Vermittlung fortschrittlichen Denkens zu sehr von Entwicklungen in Japan abhängig war – und lange Zeit abhängig blieb. Veröffentlichungen westlicher Literatur waren fast ausschließlich in japanischen Übersetzungen zugänglich. Die Kenntnisse westliche Sprachen reichten in dieser Zeit noch nicht aus für eine Ernst zu nehmende inhaltliche Auseinandersetzung. Gewicht hat  aber wohl auch die Tatsache, dass die neue Elite Koreas in Japan ausgebildet wurde. Dies schuf eine tiefe geistige Bindung an, ja sogar eine Abhängigkeit von Japan. Von dort wurde auch eine große Gewichtung der Notwendigkeit fester Wertsysteme übernommen. Dieses Wertsystem war zwar nicht mehr nur chinesisch–konfuzianisch geprägt, aber doch eher traditionell und modernisierungsfeindlich.